Russland ade — die gemeinsame Geschichte mit der Ukraine gerät immer mehr in Vergessenheit.

Quelle: https://www.manova.news/artikel/verleugnete-wurzeln

In aktuellen Debatten rund um die Ukraine wird eines oft vergessen: Die Vergangenheit des Landes und die tiefen Wurzeln, die dieses Land mit Russland verbindet. Sei es der „Kiewer Rus“, aus dem einst das Russische Reich und später die Ukraine entsprungen sind oder die beiden Weltkriege, welche die Länder eng miteinander verbinden. Für eine kollektive Erinnerungskultur eines Volkes ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte unverzichtbar.

Gegenwärtig jedoch wird von der Regierung in Kiew das Russische immer mehr verleugnet, während man die Wurzeln des Landes mit Personen wie Stepan Bandera verbindet, der unter Rechtsradikalen beliebt ist und für eine unabhängige Ukraine kämpfte. Auch auf medialer Ebene wird das Vergessen der Geschichte gefördert; westliche Medien berichten kaum bis gar nicht über die facettenreiche Geschichte des Landes. Die Folge: Nationalistische Kräfte gewinnen die Deutungshoheit über die ukrainische Geschichtserzählung und radieren den russischen Einfluss aus den Geschichtsbüchern.

Bandera statt Putin

Die Ukraine — ein Land, das zwischen den Fronten steht. EU oder Russland? Selbstbestimmung oder Unterwerfung? Es gibt kaum ein Land in Europa mit einer derartig ambivalenten Geschichte, die von Unterdrückung, Ausbeutung und Fremdbestimmung geprägt ist. Die Ukraine war und ist ein Spielball auf dem Schachbrett der hegemonialen Nachbarn. Seine Wurzeln verbinden das Land mit Russland, seine Gegenwart mit Europa. Vereinfacht könnte man sagen, die Ukraine — als homogener Staat betrachtet — will nach Europa, in die Europäische Union, rein in den Kapitalismus, raus aus der sozialistischen Vergangenheit.

Wer sich jedoch ernsthaft mit den sozialdemografischen Strukturen des Landes beschäftigt, wird sehen: So einfach ist das nicht. Der Osten des Landes ist bis heute russisch geprägt, die Menschen dort halten gar nichts von einem NATO- oder EU-Beitritt. Hier leben bis heute überwiegend Russen; auf den Straßen und in den Schulen wird größtenteils russisch gesprochen. Die Medien scheint diese Heterogenität innerhalb der Ukraine nicht zu interessieren, sie wird ausgeblendet oder einfach nicht erwähnt. Es wäre ja mit viel journalistischer Arbeit verbunden, mal ein Buch über die Geschichte des Landes zu lesen. Bequemer erscheint es, einfach das gängige Narrativ der nach Europa strebenden Ukraine gebetsmühlenartig zu wiederholen. So lange, bis auch der letzte kritische Bürger den Kopf in den Sand steckt und die medial erzeugte Realität als „die“ Wahrheit hinnimmt. Der Autor dieses Artikels möchte aus der Vergangenheit lernen und ein möglichst differenziertes Bild des gegenwärtigen Konflikts kreieren, denn „wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Zukunft“ (Richard von Weizsäcker).

Die Ukraine — ein gespaltenes Land

Die Geschichte der Ukraine ist durch ständigen Wandel und eine Vielfalt der Bewohner geprägt. Auf die simple Frage, seit wann es „die“ Ukraine gibt, fällt die Antwort nicht leicht; hierin spiegelt sich womöglich die aktuelle Problematik des Landes wider. Ein kurzer Blick in dessen Geschichte erleichtert das Verständnis des gegenwärtigen Konfliktes: Die ersten nachweisbaren Bewohner waren die Skythen, ein Nomadenstamm, der sich im 8./7. Jahrhundert v. Chr. in der heutigen Südukraine niedergelassen hat. Nach dem Untergang der Skythen siedelten sich die Sarmaten in der Region an, die Handelsbeziehungen mit China pflegten. Bis heute stammen deshalb einige Ukrainer und Polen von diesem Nomadenstamm ab (1).

Die Wurzeln der heutigen Ukraine liegen in erster Linie in den Ursprüngen der slawischen Völker, genauer genommen den Ostslawen. Im 7. Jahrhundert n. Chr. besiedelten jene das heutige Polen und die Westukraine (1). Von dort aus breiteten sie sich in alle Landesrichtungen aus, wobei ihre Sprache in drei Untergruppen geteilt war: westslawisch (woraus sich polnisch und tschechisch entwickelten) sowie südslawisch und ostslawisch, welches die Wurzel für das heutige Ukrainisch und Russisch ist (1). Im Jahr 882 entsteht der „Kiewer Rus“ (zu deutsch: „Kiewer Russland“), der als die Geburtsstunde der Ukraine gilt und unmittelbar mit der Gründung des Russischen Reiches verbunden ist (2).

Es ist bis heute ungeklärt beziehungsweise in der Wissenschaft umstritten, welcher Stamm dieses für jene Zeit fortschrittliche und multiethnische Reich gründete. Es gibt sowohl ukrainische als auch russische Wissenschaftler, die jeweils davon ausgehen, dass es „ihr“ Stamm war, der für die Gründung des „Kiewer Rus“ verantwortlich ist. Auch hierin spiegelt sich der gegenwärtige Konflikt wider, der sich nicht nur in der Gegenwart abspielt, wie die mediale (Schein-)Realität oftmals zu vermitteln glaubt. Der Nationenbegriff „Russland“ ist jedenfalls auf diese Zeit zurückzuführen; die meisten Russen bezeichnen Kiew daher als „die Mutter aller russischen Städte“ (1) und verbinden mit dieser Stadt tiefe historische Erinnerungen.

Nach dem Zerfall des Reiches durch den Einfall der Mongolen im 12. Jahrhundert n. Chr. wurde die „Ukraine“ ab dem 14. Jahrhundert Teil von Polen-Litauen bis zur „Befreiung“ durch Russland 1648 und den darauffolgenden Anschluss an das Russische Reich 1654 (3). Bis ins 17. Jahrhundert existierten die Bezeichnungen „Ukraine“ respektive „Ukrainer“ noch gar nicht. Das damalige Ethnonym für die dort lebenden Menschen war „Rus“ oder „Rusyn“. Die geographische Zuordnung als „Ukraine“ taucht zum ersten Mal im 12. und 13. Jahrhundert auf. Im 17. Jahrhundert wird der Begriff zunächst mit den Dnjepr-Kosaken in Verbindung gebracht, bevor erstmals während des Ersten Weltkrieges einzelne Nationalstaaten als ukrainisch bezeichnet wurden. Seit der Unabhängigkeit 1991 wird das gesamte Land vollständig als „Ukraine“ bezeichnet (1).

Zum Russischen Reich gehörte die Ukraine bis zur Oktoberrevolution 1917/1918. Nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns und dem Ende des Ersten Weltkrieges bildete sich kurzzeitig eine Westukrainische Volksrepublik (2). 1922 fiel die Ukraine unter die Herrschaft Josef Stalins. Ende der 1920-iger Jahre und Anfang der 1930-iger Jahre gingen aufgrund der Stalin‘schen Kollektivierungspolitik Millionen Menschen elend zu Grunde. Während des Zweiten Weltkrieges geriet der westliche Teil des Landes unter deutsche Herrschaft, während der andere Teil im Osten auf der Seite der Roten Armee kämpfte (3).

Auch hierin zeigt sich die Zerrissenheit des Landes; der Westen der Ukraine fühlt sich bis heute mehr zu Europa hingezogen und empfindet gegenüber Russland eine in Teilen historisch verwurzelte Abneigung, dies bestätigen auch Umfragen. Der Osten wiederum hat seine Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion, und die Regionen um Donetsk und Lugansk galten lange Zeit als die „Kornkammer der Sowjetunion“ (3). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Ukraine Teil der Sowjetunion, die Krim, welche bis dahin Bestandteil der Russischen Föderation war, im Jahr 1954. Sie wurde der Ukraine in einem sowjetinternen Verwaltungsakt „geschenkt“ (1). Im Zuge der Auflösung der Sowjetunion wurde die Ukraine am 24. August 1991 unabhängig und ist seitdem ein eigenständiger, souveräner Staat (3).

Vor diesem historischen Hintergrund ist es durchaus verständlich, dass es bis heute vielen Russen – sowohl in Russland als auch in der Ukraine — schwerfällt, die Ukraine als einen eigenständigen, unabhängigen Staat zu betrachten. Vor allem die Bestrebungen, Teil der NATO zu werden, sehen viele als „Verrat“ an der gemeinsamen Geschichte und den Wurzeln des Landes an.

Erste Annäherungen an die EU und die NATO

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine waren 1991 noch 22 Prozent der Gesamtbevölkerung ethnische Russen, wobei ein Großteil im Süden, vor allem aber auch im Osten des Landes lebte. Auf der Krim lag der Anteil der russisch Sprechenden sogar bei 67 Prozent (4). Der erste Präsident des ehemaligen Sowjetstaates, Leonid Krawtschuk, erklärte gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft, dass er die russische Minderheit in seinem Land akzeptieren und sie auf keinen Fall diskriminiert werde.

Die Krim erklärte sich 1992 für unabhängig und hatte ab 1995 offiziell den Status als autonome Republik innerhalb der Staatsgrenzen der Ukraine (5) inne. Im Jahr 1994 wurde Leonid Kutschma Präsident des Landes. Er galt lange als Hoffnungsträger im Westen, weil er versprach, das Land zu demokratisieren und gleichzeitig die Verbindungen zu Russland aufrechtzuerhalten. So trat die Ukraine 1995 dem Europarat bei und schloss zwei Jahre später einen Freundschaftsvertrag mit Russland (3).

Den Beitritt zur EU bezeichnete Kutschma lange als strategisches Ziel, er betonte jedoch auch stets, dass die guten Beziehungen zu Russland dadurch nicht gefährdet werden dürfen. Nach dessen Amtszeit kam es im Jahr 2004, dem Jahr der „Orangenen Revolution“, zum Wahlkampf zwischen Viktor Janukowitsch und Viktor Juschtschenko, auf den während des Wahlkampfes ein Giftanschlag verübt worden war. Die Wahlen mussten aufgrund der Vermutung von Wahlfälschung wiederholt werden (6). Wie Der Spiegel 2005 unter dem Titel „Revolutions-GmbH“ berichtete, waren wohl amerikanische NGOs wie „Freedom House“ und das amerikanische Außenministerium finanziell und ideell an den Protesten der pro-westlichen Kräfte beteiligt (7). Laut einem Bericht der ZEIT sollen mindestens 65 Millionen US-Dollar aus den USA für den Wahlkampf Juschtschenkos geflossen sein.

Unter dem neuen Präsidenten wurden neue außenpolitische Prioritäten gesetzt: der baldige Beitritt zur Europäischen Union und die Mitgliedschaft in der NATO. Die Zusammenarbeit mit Russland und dessen Plan einer Eurasischen Wirtschaftsunion wollte Juschtschenko nach Möglichkeit zu Fall bringen (8). Darüber hinaus drohte Juschtschenko während des Georgienkrieges 2008, den Vertrag bezüglich der Krim nicht zu verlängern, der die Grundlage der Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte war. Die gleichzeitig laufenden NATO-Beitrittsverhandlungen scheiterten 2008 nur knapp und hinterließen in Moskau tiefes Misstrauen. Moskau fand eine Öffnung gen Westen nur dann akzeptabel, wenn auch die Interessen und die Beziehungen zu Russland berücksichtigt werden.

Gleichzeitig schaffte Juschtschenko es nicht, die Korruption — wie versprochen — zu bekämpfen und zu allem Überdruss sank die Wirtschaftskraft des Landes rapide ab. Er erhielt daher bei der Präsidentschaftswahl 2010 gerade einmal 5,4 Prozent der Wählerstimmen. Die Wahl gewann sein politischer Widersacher aus 2004, Viktor Janukowitsch, knapp vor Julia Timotschenko mit 49 Prozent der Stimmen (8). Janukowitsch verkündete bereits in seiner Antrittsrede, dass die Ukraine eine „Brücke zwischen Ost und West“ darstellen solle und machte klar, dass die Ukraine in absehbarer Zeit nicht der NATO beitreten werde (9).

Brückenpolitik zwischen Russland und Europa

In den nächsten Jahren war das Land unter Janukowitschs Regie darauf ausgerichtet, die Brückenpolitik zwischen der EU im Westen und Russland im Osten umzusetzen. So wurden die Gespräche mit der EU über das Assoziierungsabkommen weiter fortgesetzt. Gleichzeitig wurde der Vertrag über die Verpachtung des russischen Flottenstützpunktes in Sewastopol auf der Krim bis 2042 verlängert (9).

Darüber hinaus wurde neben den Verhandlungen mit der Europäischen Union auch mit Russland über einen Beitritt zur Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland verhandelt. Dies betrachteten westliche Politiker mit einem kritischen Auge, da sie vermuteten, dass Putin über diese Union die Grenzen der Sowjetunion wiederherstellen wolle (10). Laut Umfragen waren etwa 57 Prozent der Ukrainer für einen Beitritt zur EU und nur knapp ein Drittel sprach sich für die Zollunion aus (9).

Der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso erläuterte 2011, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU mit einer Mitgliedschaft in der Zollunion nicht vereinbar sei, eine Meinung, die einige EU-Parlamentarier übernommen haben (11). Der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew erklärte daraufhin, dass Gleiches auch für die Zollunion gelte. Die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommen war daher mit großem politischem Druck verbunden, weshalb Janukowitsch sie mit Blick auf die schwerwiegenden Folgen für sein Land und die Sicherheitslage in Europa absagte.

Der Beginn der Krise

Ein weiterer Faktor, weshalb das Assoziierungsabkommen letztlich nicht unterschrieben worden ist, kann auch gewesen sein, dass Russland in die Verhandlungen kaum miteinbezogen worden ist. So resümierte der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in einem Interview mit dem STERN:

„Das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ohne Einbezug Russlands, zumindest ohne Rücksicht auf Russland, zu verhandeln, war eine Dummheit“ (12).

Nach den gescheiterten Verhandlungen kam es noch am gleichen Abend zu ersten spontanen Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew, die innerhalb der nächsten Wochen immer mehr Zulauf erhielten. Bald formierte sich rund eine Million Menschen, um gegen die Entscheidung der Regierung zu protestieren. Gleichzeitig kam es im Osten der Ukraine (in Charkiw und Donezk) zu Protesten, wobei die dortigen Demonstranten die Entscheidung der Regierung begrüßten (13).

Während der Demonstrationen auf dem Maidan hielten auch immer wieder Europapolitiker und US-amerikanische Politiker Reden, in denen sie inhaltlich die Position eines EU-Beitritts der Ukraine stärkten. Der frühere US-amerikanische Politiker und mittlerweile verstorbene Senator John McCain, aber auch der ehemalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle setzten sich direkt vor Ort für eine Westanbindung der Ukraine ein (8). Die Proteste spitzten sich immer weiter zu und auch die Beteiligung von Demonstranten aus dem rechten Lager wurde immer größer.

„Fuck the EU“

Zu Beginn des Jahres 2014 verschärfte sich die Situation zusehends und wurde von blutigen Ausschreitungen und mehr als hundert Toten, davon 16 Polizisten, auf dem Maidan überschattet. Wer für die Schüsse verantwortlich ist, ist bis heute (Stand: 8. Januar 2019) nicht geklärt (13). Angesichts der immer bedrohlicher werdenden Proteste floh Janukowitsch am 22. Februar 2014 nach Russland, und das Parlament erklärte ihn noch am gleichen Tag für abgesetzt.

Die Legalität des Verfahrens muss jedoch angezweifelt werden, da es nach der ukrainischen Verfassung hierfür einer Dreiviertel-Mehrheit bedurfte, die nicht erreicht worden ist: Es stimmten im Parlament nur 72,8 Prozent für eine Absetzung (9). Formal betrachtet handelte es sich also um einen Verfassungsbruch. Der damalige US-amerikanische Präsident Barack Obama gab in einem Interview mit CNN im Nachhinein zu, dass es „einen Deal zur Machtübergabe“ gegeben habe (14). Nach der Absetzung Janukowitschs kam es zu ersten militärischen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine, vor allem in den Regionen Luhansk und Donezk, die bis heute andauern und in deren Rahmen Russland die sogenannten pro-russischen Separatisten mit Waffen beliefert.

Zur Frage, wer hinter den Umbrüchen in der Ukraine steht, erschien ein bemerkenswertes, geleaktes Video der damaligen US-amerikanischen Staatssekretärin Victoria Nuland, in welchem diese in einem privaten Telefonat mit dem US-amerikanischen Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, zum Ausdruck brachte, dass Arsenij Jazenjuk „unser Mann“ sei (15). Jener Arsenij Jazenjuk wurde später Ministerpräsident unter Petro Poroschenko.

Es muss also davon ausgegangen werden, dass die USA die Absetzung Janukowitschs aktiv unterstützt haben.

Wie diese Unterstützung jedoch genau aussah, kann (noch) nicht gesagt werden; dafür gibt es bislang keine sicheren Belege. Die Aussagen von Barack Obama und Victoria Nuland stimmen jedoch misstrauisch. Das aktuelle Kabinett besteht jedenfalls zu einem großen Teil aus NATO-Befürwortern. Der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erklärte im August 2014, dass die Ukraine, wenn sie die Voraussetzungen erfülle, NATO-Mitglied werden könne (16).

Machtwechsel auf der Krim

In Folge der Umstürze in der Ukraine und der illegalen Absetzung des Präsidenten Viktor Janukowitsch kam es auf der Krim am 27. Februar 2014 zu einem Machtwechsel. Das Parlamentsgebäude wurde von bewaffneten Kräften besetzt und die russische Fahne am Parlamentsgebäude gehisst. Das Parlament setzte noch am gleichen Tag den Ministerpräsidenten ab. Die Rechtmäßigkeit muss auch hier angezweifelt werden, zumal Journalisten jeglicher Zugang verwehrt wurde und auch die tatsächliche Anwesenheit der Abgeordneten lässt den getroffenen Beschluss fragwürdig erscheinen (5).

Daraufhin wurde ein Referendum für den 16. März angekündigt, in dem angeblich 96,6 Prozent der 82 Prozent an der Wahl Beteiligten für den Anschluss an die Russische Föderation stimmten (5). Zwei Tage später wurden die Krim und Sewastopol bei einem feierlichen Akt in Moskau in die Russische Föderation eingegliedert. Als Antwort des Westens bezeichnete man zunächst auf politischer Ebene die Angliederung der Krim als eine „Annexion“ und die westlichen Politiker wurden nicht müde zu betonen, dass derartige Brüche des Völkerrechts im 21. Jahrhundert nicht hinzunehmen sind (11). Der damalige US-amerikanische Außenminister John Kerry sagte gar pikanterweise, dass man sich im 21. Jahrhundert nicht so verhält wie im 19. Jahrhundert, „indem man auf Basis frei erfundener Gründe in ein anderes Land einmarschiert“ (16).

EU und USA beschlossen als Reaktion auf die Angliederung und die militärische Unterstützung der sogenannten Separatisten in der Ostukraine, Russland mit Wirtschaftssanktionen zu bestrafen. Gerade die Sanktionen der EU gegen die Krim gleichen dem Wirtschaftsembargo der USA gegen Kuba. Fast alle Handelsbeziehungen zwischen den Ländern der EU, jegliche Banktransaktionen und Transportverbindungen wurden auf Eis gelegt. Nicht einmal die europäischen Airlines dürfen die Krim anfliegen (18).

Schießbefehl der ukrainischen Regierung

Die Argumentation westlicher Politiker in der EU lautet, die Angliederung der Krim verstoße gegen die territoriale Integrität sowie die Souveränität der Ukraine und darüber hinaus gegen das Gewaltverbot der UNO (5). Ein weiterer Vorwurf vor allem der ukrainischen Regierung war, dass während des Referendums russische Soldaten anwesend gewesen sein sollen, um die Durchführung zu gewährleisten. Sie wurden hinterher, vor allem in den deutschen Medien, immer wieder als „grüne Männchen“ bezeichnet (19).

Laut der Darstellung Putins sicherten sie lediglich das Referendum ab, indem sie das ukrainische Militär blockierten und so Blutvergießen verhinderten (20). Der damalige ukrainische Interimspräsident Olexandr Turtschinow hat im Juni 2014 bestätigt, dass die Regierung in Kiew einen schriftlichen Schießbefehl gegeben hat. Die Soldaten der ukrainischen Armee haben den Befehl jedoch verweigert und nicht auf ihre eigenen Landsleute geschossen. Es muss davon ausgegangen werden, dass diese Information auch an den russischen Präsidenten zur Kenntnis gegeben wurde (21).

Annexion oder Sezession?

Auch die Angliederung wird nicht als Annexion gesehen, da die Moskauer Administration die Auffassung vertritt, dass dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Genüge geleistet und dem Mehrheitswillen der Krim-Bevölkerung nachgegangen worden sei (22). Inwiefern es sich rechtlich um eine Annexion handelt, ist umstritten, da aus dem Völkerrecht nicht klar hervorgeht, welches Recht über welchem steht: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder die territoriale Integrität eines Landes. Der Hamburger Völkerrechtsexperte Reinhard Merkel hat dies in einem Artikel für die FAZ treffend zusammengefasst:

„Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts). Hätte aber Russland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt der Krim nicht ablehnen müssen? Nein; die ukrainische Verfassung bindet Russland nicht. War dessen Handeln also völkerrechtsgemäß? Nein; jedenfalls seine militärische Präsenz auf der Krim außerhalb seiner Pachtgebiete dort war völkerrechtswidrig. Folgt daraus nicht, dass die von dieser Militärpräsenz erst möglich gemachte Abspaltung der Krim null und nichtig war und somit deren nachfolgender Beitritt zu Russland doch nichts anderes als eine maskierte Annexion? Nein.“

Und weiter:

„Was auf der Krim stattgefunden hat, war etwas anderes: eine Sezession, die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit, bestätigt von einem Referendum, das die Abspaltung von der Ukraine billigte. Ihm folgte der Antrag auf Beitritt zur Russischen Föderation, den Moskau annahm. Sezession, Referendum und Beitritt schließen eine Annexion aus, und zwar selbst dann, wenn alle drei völkerrechtswidrig gewesen sein sollten. Der Unterschied zur Annexion, den sie markieren, ist ungefähr der zwischen Wegnehmen und Annehmen. Auch wenn ein Geber, hier die De-facto-Regierung der Krim, rechtswidrig handelt, macht er den Annehmenden nicht zum Wegnehmer. Man mag ja die ganze Transaktion aus Rechtsgründen für nichtig halten. Das macht sie dennoch nicht zur Annexion, zur räuberischen Landnahme mittels Gewalt, einem völkerrechtlichen Titel zum Krieg.“

Es ist also nicht zweifelsfrei zu klären, ob es sich tatsächlich um eine Annexion gehandelt hat. Die von Merkel aufgebrachte Differenzierung legt dar, dass Russland zwar gegen geltendes Recht der Ukraine verstoßen hat, da die Krim Teil der Ukraine und daher auch an deren Verfassung gebunden war. Dies hat jedoch nichts mit dem Völkerrecht zu tun.

Guter und böser Nationalismus

Die Betrachtung der historischen Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland zeigen, wie sehr die beiden Länder miteinander verbunden sind. Während es aktuell von Seiten der Regierung um Petro Poroschenko Bestrebungen gibt, diese Gemeinsamkeiten mit dem bösen Nachbarn aus dem Osten zu verleugnen, wird dies in Russland mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Zu tief sind die historischen Gemeinsamkeiten der beiden Länder im kollektiven Bewusstsein der Russen verankert. Es wird daher mit mehr als nur einem kritischen Auge beobachtet, dass rechtsnationale, russlandfeindliche Persönlichkeiten wie Stepan Bandera zu Volkshelden ausgerufen werden und das ukrainische Militär den Gruß aus Zeiten, in denen die Westukraine an der Seite Nazideutschlands kämpfte, wieder verpflichtend eingeführt hat: „Ruhm der Ukraine — Ruhm den Helden.“

Es scheint das einzutreffen, wovor Russland schon während der Proteste auf dem Maidan gewarnt hatte: Dass nationalistische Kräfte an die Macht kommen, die Russland noch am liebsten vor morgen den Krieg erklären würden. Von Seiten der EU scheint das alles unproblematisch zu sein, ganz im Gegenteil, man sicherte erst kürzlich Hilfszahlungen über drei Milliarden Euro zu unter der Voraussetzung, dass die Ukraine die Achtung der Menschenrechte gewährleistet. Und auch der IWF zeigt sich spendabel: In den nächsten 14 Monaten soll die Ukraine rund 3,4 Milliarden Euro erhalten.

Inwiefern es hier noch um demokratische Werte geht, scheint fraglich. Ob die Interessen Russlands berücksichtigt werden, muss bezweifelt werden. In der Ukraine geht es Europa weder um Recht und Werte als vielmehr um Macht und geostrategische Interessen. Dass Europa dabei eine Regierung unterstützt, die offen nationalistisch ist, sollte vor allem in Deutschland kritisch betrachtet werden. Doch leider ist die mediale Realität meist auch die gesellschaftliche Realität und die deutsche Gesellschaft hat den Kern des Bösen in der AfD erkannt. Dass dadurch der Blick für andere nationalistische Bestrebungen verloren geht, ist bedauernswert und könnte verheerende Folgen für die Sicherheitslage in Europa haben.